Es lebe Jesus!

 

 12. Rundbrief des Generaloberen                                                                      Januar-Februar

 Lewis S. Fiorelli, OSFS                                                                                                                         1999

 

 

Das Charisma in das neue Jahrtausend tragen

 

 


         Die Welt erwartet mit Spannung die Ankunft des dritten Jahrtausends. Auf einer in letzter Zeit abgehaltenen Versammlung reflektierten Schwestern der Heimsuchung darüber, was sie tun könnten, um die Fortführung ihres Charismas im nächsten Jahrhundert und im nächsten Jahrtausend zu gewährleisten. Im Bewusstsein, zu den Anawim von heute zu gehören, stellten sie sich die Frage: "Was können wir als Anawim tun, um das Charisma weiter zu tragen?" Sie luden mich ein, ihnen in der Beantwortung dieser Frage zu helfen. Ich habe das in einem Vortrag getan, den ich euch hier in abgeänderter Form vorlege. Es ist für uns als Oblaten wichtig, dieselbe Frage zu stellen und sie zu beantworten, denn viele von uns fühlen sich ebenso unter den Anawim von heute.

 

         Anawim sein

         In der Bibel sind die Anawim die Bedürftigen und Armen, die sich schmerzlich ihrer äus­sersten Abhängigkeit von Gott bewusst sind. Während des Exils werden die Anawim zum Rest des auserwählten Volkes Gottes. Als solchem ist ihnen die heilige Verantwortung anvertraut, die Geschichte, den Glauben und die Erfahrung des Volkes Gottes zu bewahren und weiter zu geben.

         Ich möchte meine Ausführungen mit ein paar Gedanken über die Wörter Anawim und heilige Verantwortung beginnen.

         Indem wir uns selbst als Anawim sehen, haben wir einen hilfreichen Vergleich zwischen unserem gegenwärtigen Status und dem des Volkes Gottes während der schwierigen und entmutigenden Zeit ihres Exils. Dieser Vergleich ist recht treffend, denn er schafft Klarheit bezüglich unserer jetzigen Identität und unserer zukünftigen Sendung. Ich möchte erklären, was ich meine.

         Bibelwissenschaftler sagen uns, dass der Begriff des Restes sein tiefstes Verständnis in der Schöpfungstheologie findet. Gott machte alles Seiende "aus dem Nichts". Sein Wille allein genügte, um alles Seiende hervor zu bringen: alle Materie im Universum und unseren eigenen Planten mit seiner Krönung, der Menschheitsfamilie; ebenso die Schönheit, das Gute, das Wahre und die Liebe, die immer waren und immer sein werden.

         Der Glaube an die Kraft Gottes, aus dem Nichts zu schaffen, war für die Israeliten im Exil ein tiefer Trost. Sie glaubten - sie wussten -, dass Gott mit ihnen dasselbe tun konnte, wie klein, zerbrechlich, unbedeutend und ohnmächtig sie auch zu dieser Zeit waren. Er konnte und würde aus diesem "Nichts" wieder etwas Schönes, Gutes und Wahres hervor bringen. Er konnte das trotz ihrer früheren Sünde, Untreue und Zerbrechlichkeit tun. Es ist nicht auszudenken, was er mit ihnen tun könnte, wenn ihr Glaube an ihn und ihr Bewusstsein totaler Abhängigkeit von ihm sich mit ihrem freien Willen und ihrer vollen Bereitschaft zusammenschließen würde!

         Sie vertrauten, dass sie nicht das absolute Ende des Volkes Gottes oder das letzte Kapitel der Heilsgeschichte wären. Ihrer Propheten erinnerten sie, dass sie das "schöpferische Material" seien, aus dem Gott bald wieder etwas ganz Neues machen würde. Und dieses neue Etwas würde, obwohl in veränderter Gestalt, in Kontinuität mit ihnen als Gottes besonderem Volk sein. Und Gott tat das wirklich! Der Rest, der in Jubel und Freude nach Jerusalem zurückkehrte, schritt auf den geistlichen Schultern derer, die diese Stadt als Geschlagene und Trauernde verlassen hatten.

 

         Heilige Verantwortung

         Der biblische Begriff der Schöpfung hilft, unsere Identität als Anawim zu klären. Die Verehrung des göttlichen Willens in unserer salesianischen Tradition kann uns helfen, unsere heilige Verantwortung als Anawim zu klären.

         Wie wir wissen, unterscheidet Franz von Sales zwar zwischen Gottes direktem und zulassendem Willen, dennoch erwartet er von uns nicht, dass unsere Antwort dieselbe sei: "Ja, Vater, immer nur ja!" Nach unserer geistlichen Tradition sollen wir also mit Begeisterung und Freude annehmen, was immer Gott von uns will. Wenn uns daher Gott zu seinen Anawim machte, dann sollen wir "sein, was wir sind, und es gut sein". Wir wissen, dass Anawim zu sein bedeutet, klein und zerbrechlich zu sein. Und so werden wir diesen Status im Glauben und mit vollständigem Vertrauen annehmen. Denn wir können uns so sicher sein wie die Israeliten im Exil, dass Gott etwas Wunderbares mit uns tun kann und wird.

         Daher wird unsere Antwort als Anawim kreativ, großherzig und beharrlich sein. Wir werden Gott darin vertrauen, so wie in allem anderen. Darin nehmen wir Abraham als Vorbild. Er ging - als ganz alter Mann! - in ein unbekanntes und geheimnisvolles Land. Er wusste nichts von dem, was Gott dort für ihn geplant hatte. Er wusste nur, dass Gott ihn gebeten hatte, das Vertraute und Angenehme zu verlassen und in das Unbekannte zu schreiten. Gehorchend und vertrauend machte er sich auf den Weg. Und wir wissen, wie sehr er gesegnet wurde. Gott schenkte Abraham eine geistliche Nachkommenschaft, die zahlreicher war als die Sterne am Himmel und der Sand am Ufer der Meere. Ebenso sprach Maria ihr tapferes "Fiat!", obwohl sie nichts darüber wusste, wie Gottes Wort an sie tatsächlich durch sie verwirklicht werden sollte. Abraham ist unser "Vater im Glauben", während Maria unsere Mutter darin ist!

 

         Die Koffer sind gepackt!

         Die gesamte Menschheitsfamilie steht an der Wende zu einem neuen Jahrtausend. Es ist so, wie wenn man auf der Spitze eines sehr hohen Berges steht, von der sich vor uns ein weiter Ausblick bis zum fernsten Horizont erstreckt. Dort sind keine kleinen Gedanken angebracht, sondern nur die größere Sicht der Dinge.

         Der Ausblick vor uns erstreckt sich natürlich auf die Zukunft. Und wir sind dabei, als neue Anawim in diese auszuschreiten, als ein Rest, dem die heilige Verantwortung übertragen ist, unser kostbares Charisma zu bewahren und weiter zu tragen.

         Die biblischen Anawim waren aller unwesentlichen Dinge beraubt; von ihnen war sozusagen alles Überflüssige weg genommen worden, und so waren sie bereit, mit neuer Fülle dort zu blühen, wo Gott sie nun pflanzte. Um den Vergleich abzuändern, sie waren schlank und abgemagert und deshalb bereit, alles entgegen zu nehmen, was vor ihnen lag. Ebenso müssen auch wir sein. Deshalb dürfen wir in den Rucksack, den wir uns für die Reise in das nächste Jahrtausend zurecht richten, nur das einpacken, was für unsere Vision und Sendung absolut wesentlich ist. Zugleich werden wir den Kern unseres Charismas mit uns tragen, mit dem wir die Zukunft beschenken können.

         In den letzten Jahren habe ich bei verschiedenen Gelegenheiten zu beschreiben versucht, was ich für die wesentlichen Elemente unserer Identität und Sendung als spirituelle Nachkommen des hl. Franz von Sales und der hl. Johanna von Chantal halte. Diese müssen in unseren Rucksack eingepackt werden, denn sie müssen uns auf unserer Reise in die Zukunft begleiten.

         Was sind sie? Unsere Menschlichkeit; Jesus, sanftmütig und demütig von Herzen; und Freundschaft mit Gott und dem Nächsten.

 

         "Ich bin nichts so sehr als ein Mensch"

         Zum Zeitpunkt des Todes seiner Mutter weinte Franz von Sales bitterlich. In einem Brief an die hl. Johanna erklärte er seine Tränen mit folgenden Worten: "Ich bin nichts so sehr als ein Mensch." In der salesianischen Tradition bekräftigen diese Worte eine tiefe theologische Wahrheit über uns selbst.

         Denn sie sprechen direkt unseren Status als Geschöpf an. Wir haben unsere Existenz von einem anderen erhalten. Wie die ersten Sätze der Genesis klar machen, sind wir Gottes besonderes Werk. Diese Wahrheit lässt alles Übrige über uns und unsere Welt hinter sich. Er ist Gott, und wir gehören ihm. Deshalb ist seine Wahrheit unsere Wahrheit und sein Wille unser Wille. Gott hat uns in Freiheit geschaffen, nach seinem Ebenbild und Gleichnis. Er ruft uns auf, alle Schöpfung zu ihm zurück zu führen, ihrem Ursprung und ihrer Bestimmung.

         Geschaffen zu sein bedeutet auch, dass wir auf jeder Ebene auf Gott bezogen sind: als Geschöpf und, durch Gnade, als Freund und Geliebter. Wir passen zu Gott wie die Hand in den Handschuh. Wir menschliche Wesen sind ganz, was wir sein sollten, wenn wir in Gott sind und wenn wir nur für Gott leben, indem wir uns zu allen Dingen und jedem Menschen gemäß dem Willen und der Absicht Gottes verhalten.

         Das Bewusstsein, geschaffen zu sein, führt uns zu einer Haltung des Lobpreises für den Einen, der uns mit Leben und - durch Christus - mit Gnade und der Verheissung seiner Herrlichkeit beschenkt hat.

         Unsere Tradition stellt gerne die vielen Folgerungen dar, die sich daraus ergeben, dass wir geschaffen und mit Gott so innig verbunden sind. Mensch zu sein ist zuerst eine Einladung, diese gute Erde zu lieben, dieses gegenwärtige Leben zu umfassen und jene zu lieben, mit denen wir in Richtung zu Gott unterwegs sind. Es ist eine Einladung, die göttliche Tiefe in den Leuten, in den Umständen und in den Ereignissen unseres täglichen Lebens zu finden. Für uns fällt alles Menschliche unter die Parameter der Vorsehung.

         Mensch zu sein ist auch eine Einladung, das Göttliche in Empfängnis, Geburt und neuem Leben jedes Kindes zu verehren. Es ruft uns auf, Gott für jede neue Freundschaft und jeden glücklichen Augenblick zu danken und jeden neuen Tag mit seiner Arbeit, seinem Spiel und sogar seinem Leid als die Arena anzunehmen, auf der wir Tugend leben, unsere Hand nach denen ausstrecken, die wir lieben, und unsere Arme für jene ausbreiten, die uns weh tun. Jedes Lächeln und jede Träne lädt zu einer Antwort ein, die sowohl göttlich als auch menschlich ist. Kurz gesagt, weil Gott in Jesus Christus Fleisch angenommen hat, fällt nichts Menschliches aus der Reichweite des Heiligen. Franz von Sales ist ein bleibender Begleiter in dieser Wahrheit und hat sie zu einer Grundlage seines Geistes gemacht. Sie muss in unserem Rucksack enthalten sein und uns in unsere Zukunft begleiten!

 

         "Lernt von mir, denn ich bin sanftmütig

         und demütig von Herzen!"

         Franz von Sales erinnerte die Leute gerne daran, dass Jesus in der Hl. Schrift selten über sich selbst gesprochen und sich selber nie in den Vordergrund gestellt hat. Er hat vielmehr vom Vater gesprochen, vom Willen Gottes und vom himmlischen Königreich. Deshalb schätzt Franz von Sales besonders das eine Beispiel, in dem Jesus sich selbst als Beispiel hinstellt. Er tut das im Evangelium nach Matthäus, Kapitel 11, Vers 29: "Lernt von mir, denn ich bin sanftmütig und demütig von Herzen." In diesem Vers lädt uns Jesus ein, ihn nachzuahmen. Aus diesem Grund sieht Franz von Sales hierin den Lebensentwurf des Gläubigen. Er lehrt uns, wie wir in unserer Zeit leben und handeln können, so wie Jesus in seiner Zeit lebte und handelte. Dadurch leben wir Jesus und erlauben ihm, erneut zu leben und unter den Menschen zu wandeln, dieses Mal durch uns selbst!

 

         Demut als Verborgensein

         Die Demut eröffnete Jesus die Erkenntnis einer einfachen, aber grundlegenden menschlichen Wahrheit: wir kommen von Gott und sind dafür bestimmt, zu Gott zurückzukehren. In der Zwischenzeit unseres irdischen Lebens, wie lang oder kurz das auch sein mag, sind wir eingeladen zur Anbetung und zum Lobpreis unseres Gottes und zu einem mitfühlenden und liebenden Dienst füreinander.

         In der salesianischen Tradition ist Demut an unsere verborgene Beziehung mit dem Göttlichen gekoppelt. Denn sie bezieht sich, vor allem durch das Gebet, auf die Pflege und Freude einer immer tieferen und immer persönlicheren Freundschaft mit Gott. Demut macht uns klar, dass das wirkliche Drama unseres Lebens im Inneren stattfindet. In der stillen Mitte unseres Gebetes zu Gott - von Herz zu Herz - entfalten sich vor uns Sinn und Ziel unseres täglichen Lebens.

         Dadurch ahmen wir Jesus nach, der ganze Nächte im stillen Gebet mit Gott verbrachte und darin den tiefsten persönlichen Sinn seiner Beziehung als Sohn zum Vater erfasste. Sein ganzes Leben mit Gott und mit den Menschen wurzelte in dieser Beziehung.

 

         Demut und Einfachheit

         Ich glaube, dass Demut in unserer Tradition auch mit Einfachheit verbunden ist. Mit Einfachheit meine ich ein Nicht-Überhäuftsein des Herzens und des Hauses, das einem die Freiheit lässt, zu lieben und zu dienen.

         Die Einfachheit des Herzens spricht in unserem geistlichen Leben die Rolle von Maria, der Schwester von Martha, an. In ihrer Sehnsucht, Jesus nahe zu sein, einfach mit ihm zu sein, hatte Maria das gewählt, was Jesus in bekräftigender Weise als den "besseren Teil", "das eine Notwendige" bezeichnete. Maria, oft in gespannter Aufmerksamkeit zu Füßen Jesu dargestellt, deutet auf die Wahrheit hin, dass wir in Jesus alles haben, was wir brauchen oder ersehnen. In seiner Nähe sind wir ganz und erfüllt, und unser Leben ist verdeutlicht. Mit Jesus lernen wir zunehmend, unsere Herzen von allem ausser ihm selbst und seinem Willen leer zu machen

         Aber wir halten es nicht lange aus, Maria zu sein. Bald werden wir auch wieder zu Martha. Denn Jesus sendet uns von seiner Gegenwart aus, um seinen Willen durch den Dienst an anderen zu erfüllen. Das war genau die Form seines eigenen Lebens. Er ging von stillen Nächten des Gebetes vor dem Vater wieder zu Tagen über, die voll von Energie und leidenschaftlichen Dienst für andere waren. Die Einfachheit des Herzens weiß um die wahre Verbindung zwischen dem Sein Marias und dem Tun Marthas. Was wir tun, ist in dem verwurzelt, was wir als die Geliebten des Liebenden sind. In unserer eigenen Erfahrung der Verbundenheit mit Jesus im Gebet stellen wir sodann fest, dass die Bücher 8 und 9 der Abhandlung (über das Tun und Annehmen des Willens Gottes) in den Büchern 6 und 7 dieses geistlichen Meisterwerkes (über das Gebet) wurzeln und aus diesem fließen.

         Ein Grundsatz der Sakramententheologie hilft uns zu erklären, wie die Einfachheit des Hauses mit der Einfachheit des Herzens in Beziehung steht. In den Sakramenten dienen die äusseren Elemente als Zeichen einer unsichtbaren Wirklichkeit. Das Ausgießen des Wassers bei der Taufe ist zum Beispiel das äussere Zeichen dafür, was im Inneren statt findet, nämlich die Reinigung von Sünde und der Empfang des Hl. Geistes. Alle unsere äusseren Bedingungen müssen die Einfachheit, das Nicht-Überhäuftsein, und die Einstellung unseres Herzens zur Notwendigkeit des einzig Wichtigen wiederspiegeln. Das muss nicht nur für unsere gemeinschaftlichen Räumlichkeiten sondern auch für unsere persönliche Umgebung und ebenso unseren Besitz gelten. Eine einfache, nicht überhäufte Oblaten-Gemeinschaft, die weit davon entfernt ist, uns von Gott abzulenken, wird uns zu häufigem Gebet vor ihn hinführen. Und diese Erfahrung wird umgekehrt eine Einheit der Herzen und des Willens entstehen lassen, die uns mit leidenschaftlicher Liebe und tugendhaftem Verhalten anderen gegenüber in das tägliche Leben aussendet.

         Einfachheit ist in diesem Sinn ein Ausdruck der tieferen geistlichen Armut, deren äusserer Ausdruck unser Gelübde für materielle Armut ist.

 

         Sanftmut des Herzens

         Was ist Jesu Sanftmut des Herzens anderes als der besondere Ruf, den er an jeden von uns richtet, die Dunkelheit und Selbstbezogenheit der Sünde hinter uns zu lassen und mit freudigem Vertrauen in die Helligkeit von Gottes gnadenvollem Licht einzutreten? Denn in diesem Licht lernen wir die Kunst, andere aufzunehmen und zu akzeptieren, so wie Gott es mit uns tut, und anderen ebenso aus ganzem Herzen zu dienen, so wie wir von ihm beschenkt worden sind.

         Damit uns diese Aufgabe nicht zu beängstigend vorkommt, schenkt er uns seinen eigenen besonderen Geist, der uns lehrt, wie wir in freundlicher Achtung und tiefem Respekt miteinander umgehen können, und uns die Kraft verleiht, die Einzigartigkeit jeder menschlichen Person zu feiern und zugleich deren von Gott geschenktes Recht auf Freiheit, Würde und Leben zu verteidigen.

         Wir lernen, jede Person in dieser Weise zu achten und zu ehren, aus der Heiligen Schrift, die von der menschlichen Schöpfung gemäß dem göttlichen Bild und Gleichnis spricht und dann die gesamte Heilsgeschichte als Gottes anhaltendes Bemühen um das menschliche Herz darstellt. Dieses Bemühen gipfelt im großen Werk Gottes um unseretwillen, das in der rettenden Tat Jesu und in der unbeschreiblich liebevollen Mitteilung seines Heiligen Geistes besteht.

         Aber der beste Weg zu begreifen, was Jesus mit Sanftmut von Herzen meint, besteht darin, auf sein Beispiel gemäß der Hl. Schrift zu sehen und zu ihm im Gebet zu sprechen. Wir werden dadurch begreifen, was vorher festgestellt worden ist, dass Gebet und Leben nicht voneinander zu trennen sind. Aus dem Beispiel von Martha und Maria erfassen wir, dass das Zusammenleben mit anderen in der Gebetseinheit mit Gott wurzeln und aus diesem hervorkommen muss. Durch das Gebet werden wir mehr und mehr in Jesus verwandelt und werden auf diese Weise mehr und mehr seine Instrumente zur Besserung in unseren Gemeinschaften und ebenso seine Instrumente zur Rettung unserer Welt. Wir werden zu diesen Instrumenten, indem wir ein tugendhaftes Leben von konkreter, fassbarer und Füße waschender Liebe zu unserem Nächsten führen, besonders zu jenen, mit denen wir leben und unsere Gemeinschaft teilen. Gebet fördert weiters das Leben des sanften Christus in uns. Es verwandelt jeden von uns in einen anderen Christus. Wir leben dann und dienen anderen, wie er es tat, und setzen damit seinen sanften, annehmenden Dienst einer mitfühlenden Liebe durch die Menschheitsgeschichte hindurch fort.

 

         Innere Sanftmut

         Diese Sanftheit zu anderen beginnt damit, was in der Abhandlung als "innere Sanftmut" beschrieben wird (VII, 7). Franz von Sales führt dort dessen Bedeutung nicht näher aus. Das gestattet uns im Rahmen seiner Spiritualität eine gewisse Weite, um zu verstehen, was er mit diesem Ausdruck meint. Auf diesem Hintergrund kann innere Sanftmut als eine friedvolle Konzentration tief im Inneren unseres Seins beschrieben werden oder, in den Worten unserer Tradition, als die höchste Spitze unseres Geistes. Ich glaube, dass diese friedvolle Konzentration im Geist des hl. Franz von Sales dem ähnlich ist, was Maria nach der Empfängnis Jesu erfahren hat. In den Worten des Heiligen: "Die Seele dieser geliebten Mutter war dann ganz auf ihr geliebtes Kind konzentriert. Weil der göttliche Geliebte nun in ihrem geheiligten Leib war, traten alle Kräfte ihrer Seele in ihrem Inneren zurück, sowie heilige Bienen in den Bienenstock, wo der Honig ist" (Abhandlung, VI, 7). Ihr innerer Friede war ruhig, sicher verankert in dem liebenden Gott, der in ihrer wahren Mitte wohnte. Wir wissen, dass Maria nicht lange in diesem Zustand verweilte. Vielmehr brach sie "eilig" auf, um der Note von jemand anderem abzuhelfen. In dieser Konzentration machte sie sich eilends auf den Weg, um ihrer Cousine Elisabeth in einer schwierigen Schwangerschaft beizustehen. Dadurch gelangte ihre innere Sanftheit durch einen mitfühlenden Dienst für jemand Bedürftigen zu einem äusseren Ausdruck, und so muss es auch bei uns sein.

 

         Sanftmut, die Frucht der Demut

         Sanftmut verhält sich zur Demut wie die reife Frucht zu seiner Blüte. Demut ist die verborgene Innerlichkeit unseres Lebens. Durch sie sind wir im Gebet mit Gott verbunden und werden durch diese verwandelnde Erfahrung in einen anderen Christus umgestaltet. Das Erblühen dieser Pflanze ist die Frucht unseres Umgangs miteinander und mit unserer Welt. Die Demut ist die affektive Liebe der Bücher 6 und 7 in der Abhandlung, während die Sanftmut die effektive Liebe der Bücher 8 und 9 ist. Die stille und verborgene Demut eines gebetserfüllten Herzens gebiert eine sanfte Gegenwart in einer gewalttätigen Welt, eine Gegenwart, welche Gewalttätigkeit jeder Art durch eine überzeugende, anziehende und einladende Liebe überwindet, niemals durch Gewalt. Gebet verwandelt die Herzen; und verwandelte Herzen gestalten das Leben, die Systeme und Strukturen neu. Deshalb ist das Gebet der Schmelztiegel, in dem Herz und Welt durch den demütigen und sanftmütigen Jesus umgestaltet werden, der deren Alpha und Omega ist.

         Wenn wir nun dem neuen Jahrtausend entgegen gehen, können wir sicherlich nicht das Beispiel Jesu, dessen Herz sanft und demütig ist, hinter uns lassen. Weder der überall gegenwärtige und zunehmend unverzichtbare Computer noch irgend eine ausgeklügelte zukünftige Technologie wird jemals das menschliche Herz ersetzen, das demütig vor seinem Gott steht und sanftmütig inmitten seiner Mitmenschen lebt. Diese Tugenden werden sicherstellen, dass die Zukunft, wie hoch technisiert sie auch sein wird, immer auch mit einer herzlichen Freundlichkeit und einer einladenden Liebe durchdrungen sein wird.

 

         Freundschaft mit Gott und dem Nächsten

         Wir wissen, dass die geistliche Krise in der Jugend des hl. Franz von Sales sich löste, indem ihm klar wurde, dass allein die Liebe Gottes seinen Plan mit der Schöpfung und jeder menschlichen Person angemessen erklären kann: aus dem Akt der Schöpfung selbst, durch die erlösende Tat Jesu, das heilig machende Ausgießen des Hl. Geistes als Liebe über die Schöpfung und in jedes menschliche Herz, und durch die Einladung zur Freundschaft mit Gott an jede Person. Das Studium des Hohenliedes etwa zur selben Zeit wie die Lösung seiner Krise gab ihm das Prismenglas in die Hand, durch das hindurch er fortan immer die vielen Einzelheiten der menschlich-göttlichen Beziehung schätzen sollte (vgl. 7. Rundbrief des Generaloberen).

         Wir erinnern häufig die Leute an ihre große Verantwortung als Gläubige. Sie hören von uns, liebende Gatten zu sein, sorgende Eltern und verantwortungsvolle Bürger. Sie erfahren ausserdem von ihren Verpflichtungen auf der moralischen, sozialen und kirchlichen Ebene. Wir ermahnen sie, aufmerksame Bewahrer der Schöpfung zu sein und ebenso Anwälte der Gerechtigkeit und des Friedens, und lehren sie, Jesus im Antlitz der Armen und Unterdrückten zu sehen und ihm dort zu dienen.

         Aber erinnern wir sie auch genügend oft an ihre fundamentalste Berufung: ihren Gott zu kennen und ihn zu lieben und eine immer tiefere liebende Beziehung mit dem Göttlichen zu entwickeln? Als Oblaten sind wir in besonderer Weise mit einer Spiritualität beschenkt, die diese Einladung zur Freundschaft mit Gott sowohl anziehend als auch möglich macht. Wir wissen aus Erfahrung, dass Menschen zu einer neuen Schöpfung werden, wenn sie einmal wahrhaft zu schätzen beginnen, dass sie von einem Gott, der die Liebe ist, geliebt und bei ihrem Namen gerufen werden! Sie schätzen sich dann selbst, weil Gott es tut, und gehen auf andere und deren Welt mit der göttlichen Sicht der Dinge zu. Sie beginnen zu verstehen, dass es menschliche Erfüllung bedeutet, sich in Gott zu verlieben. Es stattet sie ausserdem mit der Gnade aus, die Welt zu verändern, weil es ihnen bewusst werden lässt, dass sie zu Kanälen von Gottes umwandelnder Liebe werden.

         Vielleicht widersetzen sich unsere Leute oft unseren "Du sollst" und "Du darfst nicht", weil sie das als etwas betrachten, das ihnen von ausserhalb auferlegt wird. Wir müssen ihnen beibringen, dass sie von Gott leidenschaftlich geliebt werden (Abhandlung, II, 8) und dass sie eingeladen sind, ihn durch das Gebet, die Sakramente und die Übung von Tugenden zu erfahren und zu lieben. Mit der Zeit werden sie sowohl in der Liebe wie im Willen "vereint, ergriffen und an Gott gebunden" (Abhandlung, VII, 3). Auf diese Weise werden sich die "Du sollst" und "Du darfst nicht" unseres katholischen Glaubens und unserer traditionellen Moral schrittweise zu persönlichen Werten verinnerlichen. Als solche werden sie zu Anwendungsgrundsätzen für ihr äusseres Verhalten werden. Die Liebe wird nicht nur den Christen verwandeln, sondern durch sein Verhalten zu anderen auch die übrige Welt.

         In meinem 6. Rundbrief habe ich von der Liebe zum Nächsten hinsichtlich der Freundschaft gesprochen. Ich möchte nicht wiederholen, was dort steht, aber ich möchte einen Punkt im Lichte des eben Gesagten hinzufügen.

         Unser Patron sagt uns in seiner Abhandlung, dass unsere Liebe zu Gott "die Liebe zum Nächsten hervorbringt". Er schreibt, dass "ebenso wie wir Abbilder Gottes sind, so ist unsere heilige Liebe zueinander das wahre Abbild unserer himmlischen Liebe zu Gott" (X, 11). Die Reihenfolge ist für diesen Gedanken wesentlich. Die Liebe zu Gott geht unserer Nächstenliebe voraus, weist ihr die Richtung und verlieht ihr die Farbe. Wir müssen aufpassen, diese Reihenfolge nicht umzukehren. Unsere Liebe zu Gott gestattet unserer Nächstenliebe, aus innerer Überzeugung heraus in das Handeln überzugehen. Und das macht diese Liebe ebenso echt, spontan und leidenschaftlich wie die Liebe Jesu selbst.

 

         Schlussfolgerung

         Unsere Menschenfreundlichkeit, unsere Berufung, Jesus zu leben, und unsere besondere Freundschaft mit Gott und dem Nächsten - das alles sind salesianische Gaben, und wir sollten sie mitnehmen, wenn wir uns auf die Reise in das nächste Jahrtausend machen. Mit ihnen wird unser Rucksack voll sein, weil wir mit ihnen das Beste von unseren salesianischen Heiligen sowie die wesentlichen Elemente unseres schönen Charismas mit uns haben werden. Mit diesen werden wir unsere Zukunft segnen!

 

         Ein salesianischer Gedanke

         für die Fastenzeit

         Obwohl ich diese Ausgabe des Rundbriefes einige Zeit vor der Fastenzeit schreibe, stelle ich mir vor, dass viele von euch sie ungefähr um diese Zeit bekommen werden. Deshalb möchte ich vorschlagen, dass wir als Kongregation über ein paar Worte unseres Patrons nachdenken, der diese Segenszeit in geistreicher Weise als den "Herbst des geistlichen Lebens" bezeichnet.

         "Die Fastenzeit ist der Herbst des geistlichen Lebens, während dessen wir Früchte sammeln, die uns für den Rest des Jahres kräftigen sollen. Mache dich selbst reich mit diesen Schätzen, die niemand von dir nehmen kann und die nicht zerstört werden können. Ich sage gewöhnlich, dass wir die Fastenzeit nicht gut verbringen, ausser wir sind entschlossen, das Beste aus ihr zu machen. Lasst uns daher diese Fastenzeit so verbringen, als wäre sie unsere letzte, und wir werden sie gut nützen. Höre auf die Predigten, weil heilige Worte wie Perlen sind; sie sind Schiffe unendlichen Erbarmens - das wahre Meer des Ostens" (Briefe 329, OEA XIII, p. 144).

 

         Der Chablais Fonds

         Ich habe schon öfter vom Chablais Fonds gesprochen. Die Kongregation ist so wie die gesamte Kirche in der Dritten Welt im Wachsen. Die Grundsätze guter Leitung und die salesianische Voraussicht ermutigen uns, im Lauf der Jahre Geld auf die Seite zu legen, um für vorhersehbare zukünftige Nöte der Oblaten in unseren Missionen zu sorgen, speziell hinsichtlich der Ausbildung, Begleitung und weiterführenden Unterstützung neuer Berufungen. Ich ersuche die Provinzen, die Missionsprokuratoren und die einzelnen Oblaten in der gesamten Kongregation, für den Erfolg des Chablais Fonds nicht nur zu beten, sondern auch alles in euren Möglichkeiten Stehende zu tun, um dessen Erfolg zu sichern. Eine einfache Broschüre in den drei offiziellen Sprachen der Kongregation, die den Zweck, den Gedanken und die Hoffnung dieses Fonds beschreibt, steht kurz vor ihrer Vollendung. Diese Broschüre ist bei Fr. Richard Morse aus der Toledo-Detroit Provinz, dem Vorsitzenden des Komitees für die Missionen der Oblaten, erhältlich.

         In eurem Namen richte ich einen besonderen Dank an den Missionsprokurator der amerikanischen Provinzen, Fr. John Hurley, und an die Gemeinschaft der Bishop Ireton High School in Alexandria, VA, U.S.A., für ihre kürzlichen Beiträge zu diesem Fonds. Während des Treffens der Höheren Oberen im vergangenen Juli habe ich dir Provinziale ersucht, darüber nachzudenken, einen kleinen Prozentanteil ihrer jährlichen Budgets für diesen Zweck zu erübrigen. Möge diese Empfehlung auf fruchtbaren Boden fallen!

 

         Berufungen: eine Ermutigung

         In der letzten Ausgabe des Personalverzeichnisses (Oktober 1998) sind die Novizen der Kongregation eigens angeführt. Es befinden sich 29 Namen auf diesen Seiten. Bitte, betet für ihr Durchhalten und dafür, dass ihnen andere folgen werden! Am 1. September hatte ich die Ehre, die Ersten Gelübde von 3 Mitbrüdern in Bénin entgegen zu nehmen, und am 31. Januar 1999 werde ich eine ähnliche Ehre haben und die Erste Profess von 6 Mitbrüdern aus der Südamerikanischen Region entgegen nehmen, von denen zwei aus unseren neuen Gründung in Ecuador stammen. Ich weiß ausserdem bereits von einigen Priesterweihen, die für 1999 angesetzt sind.

         Seien wir Gott dankbar für diese ermutigenden Entwicklungen und hellen Zeichen für unsere Zukunft!

 

         Internationales Scholastikat

         Scholastiker aus den Regionen Keimoes (Südafrika) und Keetmanshoop (Namibia) leben und studieren seit einigen Jahren gemeinsam in Pretoria. Bald werden sich ihnen auch unsere Scholastiker aus Bénin anschließen. Somit haben wir folglich ein neues internationales Scholastikat in dieser schönen südafrikanischen Stadt. Ich hoffe, dass diese gemeinsame Unternehmung einen Antrieb für andere gemeinsame Werke in der Kongregation darstellen wird.

 

         Oblate in der Ukraine

         Während ich diesen Brief schreibe, bereitet sich Fr. William Gore aus der Wilmington-Philadelphia Provinz auf eine Rückkehr in die Ukraine und einen dreijährigen Aufenthalt dort vor. Während seines Aufenthalts wird er die Sprache und Kultur dieses Landes studieren und einen priesterlichen Dienst ausüben. Seine Aufgabe ist im Wesentlichen eine Erkundung. Möge der Herr uns seine Pläne klar machen, die er vielleicht für die Kongregation in diesem Land hat, das so viel Verheissung in sich trägt!

 

         Monaco

         Anfang Januar trifft sich der Generalrat in Monaco, um einen Provinzial für die französische Provinz zu finden, der P. Jean Gayet nachfolgen wird. In eurem Namen möchte ich P. Gayet für seinen hingebungsvollen und geisterfüllten Dienst danken, den er nicht nur den Mitbrüdern seiner Provinz geleistet hat, sondern auch der Kongregation insgesamt. Oblaten mit seinen Talenten und seiner Großherzigkeit sind ein Geschenk für die Kirche und für die Kongregation. Sie sind ausserdem eine Quelle des Stolzes für uns alle.

         Während unseres Treffens werden wir einen Zeitplan aufstellen, um unter den Oblaten Personal für den Dienst in der Pfarre St. Charles zu finden. Ich hoffe aufrichtig, dass sich Oblaten für diesen Dienst finden werden. Auf diese Weise werden wir fähig sein, unsere lange Tradition eines herausragenden Dienstes in das neue Jahrtausend hinein fortzusetzen und somit auch unserer Verpflichtung an den Heiligen Stuhl nachzukommen, der unserer Kongregation diese Pfarre für immer anvertraut hat.

 

         Meine Pläne

         Vom 3. bis 6. Januar findet das Treffen des Generalrates in Monaco statt. Ende Januar wird ein Treffen des Komitees für die Missionen der Oblaten im Generalat statt finden (bei dem ich nicht dabei sein kann, aber für das ich um euer Gebet bitte). Vom 27. Januar bis Mitte Februar werde ich zu den Jahresexerzitien, zur Ersten Profess von sechs jungen Oblaten und für den ersten Teil der Visitation in der Südamerikanischen Region sein. Im Monat Mai und vielleicht Anfang des Juni werde ich mich auf einer Visitation der Toledo-Detroit Provinz befinden. Ende Juli werden sich die Mitglieder der Vorbereitungskommission in Allentown treffen. Im Juli oder August werde ich in die Südamerikanische Region zur Beendigung der dortigen Visitation, dieses Mal im Norden, in Saúde, zurückkehren. Vom September bis November oder Dezember werde ich die Visitation der Wilmington-Philadelphia Provinz vornehmen.

         Ich weiß, dass ich während dieser kommenden Monate mit eurem Gebet rechnen kann, und das werde ich auch brauchen! Bitte, rechnet auch ihr mit meinem Gebet!

 

         In brüderlicher Verbundenheit

         durch unseren heiligen Patron

         und unsere heiligmäßigen Gründer,

 

 

         Lewis S. Fiorelli, OSFS

         Generaloberer

 

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