Es lebe Jesus!

 

  11. Rundbrief des Generaloberen                    September-Oktober

  Lewis S. Fiorelli, OSFS                                                                           1998

 

 

 


         Während ich gerade diese elfte Ausgabe meines Rundbriefes schreibe, liegt die Feier unseres jährliches Tages der Gründer nur noch ungefähr einen Monat vor uns. Dieser Tag der Gründer bietet uns jedes Jahr eine Gelegenheit, an all jene Oblaten zu denken, die am Anfang einer bestimmten Provinz, einer Region oder eines Apostolates gestanden ist. Er erinnert uns auch in einer besonderen Weise an P. Brisson und seine ersten Gefährten. Natürlich kann auch das Gedächtnis der "Anregung" zu unserer Kongregation durch Mutter Marie de Sales Chappuis niemals von der Erinnerung an ihren Gründer getrennt werden. Noch kann der Gedanke an P. Brisson jemals von dem an die Selige Franziska des Sales Aviat getrennt werden. Die heroische "Selbst-Vergessenheit" dieser großherzigen Frau, die ihren Willen mit dem Willen Gottes vereinigte und ihr Leben einem liebenden Dienst für die jungen Arbeitermädchen widmete, hat ihr bereits einen Platz unter den Helden und Heiligen des neuen Jahrtausends bereitet.

         Kürzlich habe ich erneut einige Dokumente im Zusammenhang mit unserer Gründung gelesen. Diese Lektüre hat mich daran erinnert, dass keine unserer Oblatenkongregationen in einem historischen Vakuum entstanden ist. Immer wieder war ich davon ergriffen, wie unsere Gründer eine pastorale Not in ihrer Zeit und an ihrem Ort erkannt haben und dieser Not direkt, in einer kreativen und beharrlichen Weise, begegnet sind.

Zur Zeit der Guten Mutter Marie de Sales Chappuis, von P. Louis Brisson und Léonie Aviat war der katholische Glaube in Frankreich einer ernsthaften Gefahr ausgesetzt. Zehntausende armer junger Leute suchten Arbeit und strömten in die neuen industriellen Zentren Frankreichs, von denen eines Troyes war. Aufgrund ihrer Entwurzelung aus den kleinen Dörfern und somit auch von den starken Traditionen der Familie und des Glaubens waren diese jungen Leute sehr anfällig für die Verlockungen einer neuen sozialen Ordnung und auch gegenüber der aggressiven Evangelisierung protestantischer Kirchen. Um sich diesen Herausforderungen zu stellen und die Jugend Frankreichs im Glauben zu bewahren, wurde in Paris die Vereinigung des hl. Franz von Sales gegründet. Bald wurden diözesane Abteilungen dieser Vereinigung in ganz Frankreich geschaffen. Der hl. Franz von Sales wurde wegen seines großen pastoralen Eifers und seines missionarischen Erfolges im Chablais, der unter ähnlichen Umständen wie zu jener Zeit in Frankreich geschah, zum Patron der Vereinigung gewählt.

         P. Brisson wurde von seinem Bischof gebeten, das Werk dieser Vereinigung in der Diözese von Troyes zu beginnen und zu koordinieren. Ihre formelle Errichtung geschah am 19. März 1858, dem Fest des hl. Josef, in der Kapelle der Heimsuchung, wobei die Gute Mutter zur Ökonomin ernannt wurde. Von Anfang an war es ein gemeinschaftliches Werk. Klerus, Ordensleute und Laien taten sich zusammen, um seinen Erfolg sicherzustellen. Sogar die jungen Mädchen in der Schule der Heimsuchung trugen ihren Teil dazu bei, die Ziele der Vereinigung zu fördern.

         Katholische Internate und Jugendklubs für junge Arbeiter gab es bereits in Troyes. Deshalb konzentrierte P. Brisson seine Bemühungen auf die Errichtung ähnlicher Strukturen für arbeitende Mädchen. Von Anfang an beteiligten sich engagierte Frauen als Ersatzmütter für diese Mädchen. Aber weil sich oft deren eigene Lebenssituation durch eine Verehelichung und eigene Kinder veränderte, mussten viele dieser Frauen ihren Dienst wieder aufgeben. Ihr ständiges Abschiednehmen führte dazu, dass sich die Mädchen oft verlassen fühlten, und die notwendige Kontinuität innerhalb dieser "Werke für Arbeitermädchen" gefährdet war. P. Brisson kam zur Überzeugung, dass nur eine Ordensgemeinschaft von apostolischen Frauen fähig sein würde, sowohl Kontinuität in diesen Projekten als auch eine wohltuende mütterliche Präsenz für seine Mädchen zu gewährleisten. Deshalb lud er die junge Léonie Aviat, die er schon als Laienmitarbeiterin in diesen Werken kannte, ein, sich ihm bei der Gründung einer neuen Gemeinschaft von Ordensfrauen anzuschließen. Diese sollte denselben salesianischen Geist haben wie die Heimsuchung, aber in ihrem Charakter apostolisch sein. Somit waren die Oblatinnen gegründet!

         In all diesen Entwicklungen war für Mutter Marie de Sales Chappuis die Hand der Vorsehung am Werk. Jahrzehntelang war sie überzeugt, dass Gott die Welt mit einem wundervollen neuen Strom aus der Kraft der Erlösung überfluten wollte. In der Gründung der Oblatinnen - und mit unserer eigenen Gründung einige Jahre danach - sah sie die Morgendämmerung dieses neuen Zeitalters der Gnade. Sie war überzeugt, dass die Oblatinnen und die Oblaten in beiden Kongregationen, genährt vom Geist und der Lehre des hl. Franz von Sales, insbesondere durch eine treue Übung seines Geistlichen Direktoriums, dazu bestimmt waren, Kanäle der erfrischenden Gnade des Erlösers für eine Welt zu werden, die sehr danach dürstete. Sie sollten diese Kanäle sein, indem sie der Welt den Geist des Evangeliums Christi bringen, so wie ihn der hl. Franz von Sales gelebt und gelehrt hatte.

         In diesem Brief möchte ich mit euch, meine Mitbrüder, etwas von diesem religiösen Geist unseres Gründers teilen, besonders einige Gedanken über seine großherzige Nächstenliebe, seinen festen Glauben und sein stilles Gebet. Ich tue das in der Hoffnung, dass wir diesen Geist durch unser Zusammenleben in Gemeinschaft und in unseren verschiedenen Aufgaben und apostolischen Werken fortsetzen. Das Folgende ist, abgesehen von kleinen Änderungen, ein Teil eines Papieres mit dem Titel "P. Louis Brisson. Vorbild für den Leitungsdienst der Oblaten", das beim Treffen der Höheren Oberen letzten Juli verteilt wurde.

 

         "Ich liebe sie

         aus meinem ganzen Herzen!"

         In seinen vielen geistlichen Kapiteln für die Mitglieder seiner zweifachen Kongregation kommentierte P. Brisson oft die verschiedenen Artikel des Geistlichen Direktoriums. Ein häufiges Thema dieser Konferenzen war dessen erster Wunsch: "Wir haben kein anderes Band als das Band der Liebe, welches das Band der Vollkommenheit ist." Er sagt uns, dass die Praxis der Nächstenliebe "die Schönheit und den Glanz unseres Ordenslebens ausmacht, sowie auch dessen Freude und Glück." "Weil die Liebe unser besonderes Band sowie unsere spezielle und wesentliche Tugend ist, sollen wir Oblaten die brüderliche Liebe in einer besonderen Weise üben."[1] P. Brisson trug uns die Übung der Nächstenliebe nicht nur in Worten auf; er selbst war uns darin auch in seinem eigenen Handeln ein Vorbild. Die Nächstenliebe war tatsächlich eine zentrale Tugend seiner eigenen Person, seines Lebens und Dienstes.

         Am Fest des hl. Franz von Sales im Jahr 1908, weniger als zwei Wochen vor seinem Tod, waren einige Oblaten im schlichten Haus seiner Familie in Plancy um den Gründer versammelt. Im Wissen, dass sein Tod bevorstand, bat P. Deshairs, der Generalassistent, P. Brisson um ein letztes Wort, das als besonderes Vermächtnis für seine zweifache Kongregation dienen sollte. "Pater, gib den Oblatinnen und uns Oblaten ein kurzes Wort; ein Wort, das uns als Vermächtnis erhalten bleiben wird und das uns immer treu zu jenem Wunsch bewahren wird, den du nach uns hattest." In der Annahme, dass P. Brisson nicht gehört hätte, was P. Deshairs, dessen Stimme wegen einer Erkältung heiser war, gesagt hatte, wiederholte P. de Mayerhoffen die Bitte. Mit einer Stimme, die von den Anwesenden als unvergesslich "erhaben" beschrieben wurde, ging der Gründer auf die Bitte ein und sprach folgende schlichte Worte: "Ich liebe sie aus meinem ganzen Herzen."[2]

         Wenn es je einen Augenblick im Leben gibt, um eine profunde Aussage zu machen, dann ist das sicher im Angesicht des Todes. Die letzten Worte eines Gründers an seine Nachfolger sind nicht nur ein kostbarer Augenblick, der für immer geschätzt werden soll. Sie sind auch eine Satzung, die den zukünftigen Kurs der Kongregation festlegt.

         Der hier im Sterben lag, war ein eminent praktischer Mann, ein Mann der Wissenschaft. Immer wenn er auf eine konkrete Not getroffen ist, ist er diese in einer Weise angegangen, die sowohl praktisch als auch hilfreich war. Er hatte das in seinem gesamten Leben getan, besonders als er den glaubensmäßigen und sozialen Nöten der jungen Arbeitermädchen begegnet war, wie das soeben dargelegt wurde. Er war ein Mann, der eine astronomische Uhr bauen konnte, die heute noch immer alle zum Staunen bringt, die sich mit ihr befassen, und für die er während der Wissenschaftlichen Ausstellung, die 1860 in Troyes gehalten wurde, eine Silbermedaille gewonnen hat. Er erfand ein Thermossystem, um die Speisen auf ihrem täglichen Weg zu seinen vielen apostolischen Einrichtungen in und um Troyes warm zu halten, die in einer zentralen Küche zubereitet wurden.

         Was hinterlässt dieser eminent praktische und ausserordentlich begabte Mann seiner zweifachen Kongregation als Vermächtnis? Die simplen Worte "Ich liebe sie aus meinem ganzen Herzen." Aber in diesen Worten hat er uns alles hinterlassen.

         Die Liebe, von der unser Gründer hier spricht, ist eine Angelegenheit des Herzens. Sie ist überzeugt vom grundlegenden Gutsein jedes Mitbruders und jeder Person und tut alles in ihrer Macht Stehende, um dieses Gutsein zu aktualisieren. Ihr Werk ist das Besserwerden jeder Person. Sie sieht sich niemals selbst als erhaben über jene, mit denen sie lebt oder denen sie dient. Noch agiert sie in einer Weise, die eine solche Einstellung verraten würde. Sie ist Freund und Dienerin für alle.

         Liebe ist in der Achtung verwurzelt. Die Achtung wurzelt umgekehrt in der Wahrheit unseres Glaubens, dass jede Person nach dem Ebenbild Gottes geschaffen und für die Freundschaft mit Gott in diesem Leben und für eine dauerhafte Einheit mit ihm im nächsten bestimmt ist.

         Jede andere Kompetenz - die Gaben des Redens, des Lehrens und Schreibens, eine Fähigkeit im Administrativen, Personellen oder Finanziellen, die Ausübung von Autorität oder große Gelehrsamkeit etc. - müssen als sekundär gegenüber der einfachen Tatsache einer echten und aufrichtigen Liebe zu anderen betrachtet werden. Betrachten wir das Beispiel Jesu. Erinnern wir uns an Franz von Sales. Lernen wir am meisten vom Gründer, dessen letzte Worte an uns waren: "Ich liebe sie aus meinem ganzen Herzen!"

 

         Eine freundliche Tat

         Es gibt eine sehr vielsagende aber wenig bekannte Begebenheit im Leben von P. Brisson, die für mich die einfache aber grundlegende Qualität seiner Freundlichkeit und Liebe zu anderen Menschen illustriert.

         Wie wir alle wissen, nahm P. Brisson die Hilfe von P. Claude Perrot aus der Benediktinerabtei Einsiedeln (Schweiz) in Anspruch, um unsere Satzungen zu schreiben. Ihre Zusammenarbeit erstreckte sich über viele Jahre. Bei einem kürzlichen Besuch in Rom las ich ihren Briefwechsel. Diese Briefe sind in unseren neu renovierten Archiven recht schön verwahrt. In einem Brief, der mit 15. Februar 1868 datiert ist, dankt P. Perrot dem P. Brisson für eine kleine Geste der Freundlichkeit. Das Augenlicht von P. Perrot war schon schwach und hatte sich im Lauf der Jahre verschlechtert. P. Brisson wusste das und hatte persönlich einen von den Briefen der Guten Mutter an P. Perrot abgeschrieben, bevor er diesen an ihn weiter leitete. Er schrieb in großen Buchstaben, so dass es leichter zu lesen war. In seinem Brief an P. Brisson schreibt P. Perrot: "Ich war berührt - fast den Tränen nahe -, als ich feststellte, dass Sie sich die Mühe gemacht haben, den Brief der Ehrwürdigen Mutter abzuschreiben, so dass ich ihn leichter lesen konnte." Ich vermute, dass dies nur eines von vielen solchen Beispielen war, wo P. Brisson sich trotz seines unglaublich arbeitsreichen Lebens die Zeit nahm, um einem anderen Menschen das Leben ein wenig zu erleichtern.

         Diese kleine Tat spricht Bände zu jedem von uns. Alle von uns sind mit vielen wichtigen Angelegenheiten beschäftigt, die mit unseren verschiedenen Apostolaten der Bildung, des Pfarrlebens, der missionarischen Arbeit und vielen anderen verbunden sind. Aber inmitten von all dem sollten wir unseren Gründer nachahmen und uns die Zeit nehmen, um kleine Akte der Freundlichkeit zu denen zu setzen, mit denen wir in der Gemeinschaft zusammen sind, und zu denen, für die wir in unseren verschiedenen Apostolaten da sind.

         Das Individuum, nach dem Ebenbild Gottes geschaffen, ist in der salesianischen Tradition unersetzlich einzigartig und ist mit großer Fürsorge, mit Würde und Respekt zu achten und zu behandeln. Schicke in diesem Geist ein paar Zeilen an jemanden, der Schweres zu tragen hat oder einen geliebten Menschen verloren hat. Gratuliere einem deiner Mitbrüder, der mit irgendeinem Projekt erfolgreich war. Lasse ihn wissen, dass du dich über seinen Erfolg mitfreust! Wenn du mit Menschen zusammen bist, sprich mit ihnen über deren Familien, über deren Sorgen und deren Wohlergehen. Hebe die Begegnung von der rein formalen oder geschäftlichen Ebene auf das Niveau christlicher Brüderlichkeit und Freundschaft.

         P. Brisson hätte diesen Brief einfach an P. Perrot weiter leiten können, ohne sich darüber Gedanken zu machen, wie schwierig es für diesen werden könnte, den Brief zu lesen. Er hat das nicht getan. Er nahm den Brief zur Hand, schrieb ihn in Großbuchstaben ab, und dann schickte er ihn weiter. Hätte diesen Briefwechsel nicht 120 Jahre später jemand gelesen, so hätte niemand ausser P. Perrot jemals von diesem kleinen aber nicht unbedeutenden Akt der Freundlichkeit erfahren. Wie viele ungezählte andere solche Akte der Nächstenliebe liegen versteckt, ausser für Gott, im Leben dieses guten und heiligen Gründers verborgen? Er ist ein Vorbild, das der Nachahmung würdig ist.

 

         "Diese Erscheinung war die

         entscheidende Tatsache meines Lebens"

         Der Glaube war für P. Brisson so wesentlich wie die Liebe.

         Am 20. Dezember 1890 feierte P. Brisson eines der vielen Feste anlässlich seines diamantenen Priesterjubiläums. Es war die Feier mit seinen geliebten Oblatinnen. Bei diesem Anlass verteilte er Andachtsbilder an sie mit dem Nunc dimittis, dessen Text auf der Rückseite abgedruckt war. Der Ausdruck "meine Augen haben dein Heil gesehen" war hervorgehoben, weil - wie der Gründer selbst erklärte - "ich auf diese Weise die Erscheinung bestätige, mit der ich von unserem Herrn beschenkt wurde. Es war die entscheidende Tatsache meines Lebens ... Es war diese Erscheinung, die mir sagte, was ich aus meinem Leben zu machen hatte."[3]

         Wir alle sind mit der Schilderung von dieser Erscheinung vertraut. Es ist ein Schlüsselereignis in der Geschichte der Gründung unserer Kongregation. Am 24. Februar 1845 erschien Jesus einem widerwilligen Gründer im oberen Sprechzimmer der Heimsuchung von Troyes. Nun, 45 Jahre später, bei diesem feierlichen Anlass seines diamantenen Jubiläums, und jetzt als sehr alter Mann, der nur noch knapp acht Lebensjahre vor sich hat, charakterisiert er dieses Ereignis als "die entscheidende Tatsache" seines Lebens.

         Was sagt dieses bemerkenswerte Ereignis uns über unser Oblatenleben? Dem Beispiel unseres Gründers folgend, müssen wir unser Leben im Kontext des Glaubens leben. Und mit Glauben meine ich prinzipiell nicht den Inhalt eines Glaubensbekenntnisses oder eines Katechismus. Ich meine, was unser Gründer erfahren hat. Er machte eine direkte und sehr persönliche Erfahrung von Jesus. Diese Erfahrung bestimmte jeden verbleibenden Augenblick seines ausserordentlichen Lebens und bemerkenswerten Dienstes.

         Dieser Glaube hat ihn in den dunkelsten Tagen seiner Schwierigkeiten mit Bischof Cortet getragen und ebenso während jener schrecklichen Jahre, als viele von denen, die ihm in beiden Kongregationen am nächsten gewesen sind, aus Frankreich vertrieben worden waren, und alle seine Projekte und Gründungen in Frankreich von einer feindseligen Regierung geschlossen wurden. Wir wissen, dass er in einem Haus gestorben ist, das nur einige Tage vorher einer öffentlichen Versteigerung entgangen ist. Sein Leichenzug führte an der Pforte seines geliebten St. Bernard vorbei, das ebenfalls durch eine antiklerikale Regierung zwangsweise geschlossen worden war. Die wenigen Oblatinnen, die an seiner Begräbnisprozession teilnahmen, mussten aufgrund eines Diktates derselben Regierung Zivilkleider tragen. Sein Leichenzug konnte nur vor dem Kloster der Heimsuchung kurz innehalten, durfte dort aber nicht hineinführen. Dessen Glocken läuteten für ihn, während sich die Schwestern in der Kapelle versammelten, um für ihren geliebten Spiritual und Freund zu beten. Der Großteil seines priesterlichen Lebens war mit diesem Kloster und dessen geheiligten Gängen verbunden. Hier hatte er sowohl geistliche Nahrung wie auch bleibende Freundschaft erfahren. Dort haben er und seine Weggefährtin, Mutter Marie de Sales Chappuis, darum gerungen, die Pläne Gottes für die beiden Kongregationen zu erfahren und dann anzunehmen. Bald nach ihrem Tod wurde ihm von seinem Bischof verboten, dort weiterhin als Spiritual zu wirken.

         In allen diesen Ereignissen, die sicherlich die dunkelsten Augenblicke seines Lebens waren, übte P. Brisson einen ruhigen, würdigen und wirksamen Dienst als Priester, Spiritual und Ordensgründer aus. Es war ein Dienst, der von einem Glauben getragen war, welcher in einer persönlichen Beziehung mit Jesus als seinem Herrn und seinem Freund wurzelte. Er wusste, sowohl in der Theorie und durch den harten Weg der Erfahrung, dass die Nachfolger Christi einem leidenden und gekreuzigten Herrn folgen!

         Das ist eine Lektion, die jeder Christ lernen muss. Und wir Oblaten sind keine Ausnahme. Ich brauche euch zum Beispiel nicht daran zu erinnern, dass das Leben in Gemeinschaft häufig eine Herausforderung darstellt. Aus diesem Grund pflegte der hl. Franz von Sales die ersten Visitandinnen daran zu erinnern, dass die Fehler und Eigenheiten derer, mit denen wir in Gemeinschaft zusammen leben, "Freunde der Seele" sind, und zwar wegen der vielen Gelegenheiten, die sie uns für die Übung unserer Tugend liefern. Wir wissen aus unserer eigenen Erfahrung, wie wahr das ist. Wir sollten allerdings nicht vergessen, dass wir selbst den anderen auch einen ähnlichen Dienst erweisen!

         Ich weiss, dass einige von uns zeitweise Gefühle von Selbst-Zweifel und Unzulänglichkeit haben. Wenn wir ehrlich sind mit uns selbst, dann sind wir uns ganz unserer eigenen Schwächen und Fehler bewusst. Häufig zögern andere ausserdem nicht, uns auf diese auch hinzuweisen! Es bleiben trotz unserer stärksten Bemühungen einige Fehler und viele Enttäuschungen. Gelegentlich werden unsere Motive in Frage gestellt und unsere Pläne herausgefordert. Tatsächlich ist der Weg, den wir als Ordensleute gehen, oft ein steiniger. Aber ein tiefer persönlicher Glaube an Jesus wird uns so wie den Gründer in ähnlichen Situationen in diesen Augenblicken und durch diese Herausforderungen tragen.

         Wenn wir älter werden, fühlen wir uns oft vom Nachlassen der Gesundheit, des Geistes und vielleicht auch der seelischen Kräfte ein wenig niedergedrückt. In solchen Zeiten können wir an den alternden und gebrechlichen Gründer denken, der in Frankreich im Grunde genommen allein war, nachdem alle seine Projekte geschlossen worden und die meisten Oblaten und Oblatinnen seiner beider Kongregationen in viele Richtungen zerstreut worden waren. Dennoch wusste er, dass Jesus mit ihm war. Deswegen erlaubte ihm sein Glaube sogar inmitten dieser Prüfungen, die am Ende eines Lebens voller Schwierigkeiten über ihn kamen, die helle Seite dieser Dinge zu sehen. So sagte er in dieser Situation zu Mutter Aviat: "Wir hätten uns zu sehr hier [in Troyes und in Frankreich] konzentriert. Der gute Gott zerstreut uns nun in alle Winde."[4] Diese Samenkörner fallen weiterhin auf den Boden der heutigen Welt und schlagen dort Wurzeln! Der Glaube ermöglichte dem Gründer, das zu sehen und es aus weiter Vergangenheit her gut zu heißen. Wir Oblaten sollten uns seiner würdig erweisen.

 

         Arbeiter und Heimsuchungsschwestern

         Im Rückblick auf die Route, die P. Brissons Leichenzug am 6. Februar, dem Tag seiner Bestattung, nahm, beschreibt P. Dufour diese Szene, die sich in der Vorstadt Croncel abgespielt hat: "Zu diesem Augenblick war sie voller Arbeiter und Arbeiterinnen, die ihre Fabriken verlassen hatten, um die sterblichen Überreste des Freundes und Wohltäters der einfachen Leute zu ehren."[5] Dann führt er das feierliche und ergreifende Innehalten vor dem Kloster der Heimsuchung an, dessen Glocken läuteten, während die Schwestern im Inneren leise beteten.

         Arbeiter und Arbeiterinnen und die Schwestern der Heimsuchung! Ihre Anwesenheit zu diesem traurigen Zeitpunkt des Begräbniszuges ist ein mächtiger Hinweis auf einen zweifachen Schwerpunkt im Leben dieses großen Mannes: sein apostolisches Herz und dessen Mitte, das Gebet. Dieser zweifache Schwerpunkt ist ein besonderes Merkmal der Berufung des Oblaten.

         Wir sind eine apostolische Kongregation. Die Oblatinnen wurden gegründet, um den Nöten des Glaubens und der Seele armer Arbeitermädchen zu begegnen. Einige Jahre später wurden wir Oblaten gegründet, um uns in der Bildung des Geistes und des Herzens junger Menschen für das Leben in der modernen Welt zu engagieren und um am Dienst der Kirche teilzuhaben, indem wir Jesus und sein Evangelium "einer Gesellschaft, so wie sie ist" (vgl. Art. 12 der Satzungen), bringen. Und genau so wie unser Gründer seinen unglaublich wirksamen Dienst bei den Einfachen und Armen aus der Mitte seines betrachtenden Gebetes heraus getan hat, so müssen das auch wir tun.

         Wenn wir von Oblaten sprechen, dann müssen wir von Leuten reden, die bewusst ihr vielbeschäftigtes apostolisches Leben mit der inneren Ruhe einer Mitte des Gebetes verbinden. Ausserdem müssen wir dabei von Männern reden, die jene, für die sie da sind, dasselbe zu tun lehren. Wir dürfen nicht vergessen, dass P. Brisson von Anfang an die Mitglieder seiner neuen Kongregationen als apostolische Männer und Frauen gesehen hat, die zutiefst vom kontemplativen Geist der Heimsuchung durchdrungen sind. Er sah in dieser Vision die Weiterführung eines Wunsches, den sowohl Franz von Sales wie auch Johanna von Chantal hatten. P. Brisson sah unsere Kongregation tatsächlich als "die zweite Hälfte" des Werkes, das der hl. Franz von Sales selbst gegründet hatte, das heißt, als apostolische Ergänzung des kontemplativen Dienstes der Heimsuchung.[6]

         P. Roger Balducelli schrieb öfter über den kontemplativen Kern, der in der Mitte des aktiven apostolischen Dienstes eines jeden Oblaten liegt. Diese Tradition stammt aus dem Leben und aus der Überzeugung des Gründers. Sie ist deshalb ein wesentlicher Bestandteil unseres Lebens als Oblaten.

         Deshalb sollten wir Oblaten den Gründer nachahmen und zuerst und vor allem Männer des täglichen innerlichen Gebetes sein; Männer, die aus diesen stillen Augenblicken des Gebetes heraus in ihren arbeitsreichen apostolischen Dienst für andere treten. Dieses Gebet bewirkt, dass wir für andere nicht nur die Kompetenz von intelligenten und begabten Männern einsetzen, sondern auch das Herz und die Hände von Menschen des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe. In diesem Zusammenhang sollte die Ermunterung des Gründers, "unsere Schüler in unser Gebet hineinzunehmen", jeden Oblaten und jeden Dienst eines Oblaten kennzeichnen. Für uns Oblaten ist dieses Gebet selbst wahrhaft apostolisch!

         Unser Gründer war ein unglaublich vielseitiger, apostolischer Mann. Er war ebenso ein Mann einer ungewöhnlichen Nächstenliebe, eines tiefen Glaubens und eines ständigen Gebetes. Durch all das hinterließ er uns ein Leben, das sowohl der Anerkennung als auch der Nachahmung würdig ist.

 

         Das Jahr 2000

         Bei unserem Treffen der Höheren Oberen im letzten Juli diskutierten wir Möglichkeiten, um den 125. Gedenktag des Todes der Guten Mutter und die Gründung der Kongregation im Jahr 2000 zu feiern. Eine Idee, über die nun weiter nachgedacht wird, bestünde darin, kurz vor dem Beginn des Generalkapitels, das im selben Jahr stattfinden wird, aus der ganzen Welt Vertreter von Oblaten, die sich in Ausbildung befinden, in Annecy und Troyes zu versammeln. Delegierte zu diesem Kapitel würden eingeladen, sich mit ihnen in Troyes zu einem Gottesdienst und einer Feier dieser Ereignisse einzufinden. Nachher könnten sowohl die Mitbrüder in Ausbildung als auch die Delegierten nach Fockenfeld zum Generalkapitel weiter reisen, wo die Mitbrüder in Ausbildung für die Delegierten einen Besinnungstag halten würden. Sie wären dann eingeladen, als Beobachter den Ablauf des Kapitels mitzuverfolgen.

 

         Mein Zeitplan

         Vom 20. September bis zum 16. Oktober werde ich in Frankreich (einschließlich Bénin) und in der Schweiz sein, um die kanonischen Visitationen dieser Provinzen abzuhalten. Ich bitte um das Gebet für das Gelingen dieser Visitationen. Während ich in Bénin bin, werden unsere Novizen dort ihre erste Profess ablegen. Dieses Ereignis wird nicht nur für die französische Provinz sondern ebenso für die gesamte Kongregation eine große Ermutigung darstellen!

         Der Generalrat wird Anfang Januar in Monte Carlo zusammen treffen. Ich werde Ende Januar und Anfang Februar für die Südamerikanische Region die Jahresexerzitien predigen und dort die Visitation abhalten. Die Visitation der Toledo-Detroit Provinz ist für April und Mai angesetzt. Die Vorbereitungskommission wird sich im Juli in Allentown treffen, und die Visitation der Wilmington-Philadelphia Provinz wird im September beginnen.

         Ich weiß, dass ich in diesen ereignisreichen Monaten, die nun vor mir liegen, mit eurem brüderlichen Gebet und eurer Unterstützung rechnen kann. Ich verlasse mich darauf. Ihr sollt wissen, dass ihr ebenso täglich in meinen Gedanken und Gebeten seid!

 

 

 

 

         In brüderlicher Verbundenheit

         durch unseren heiligen Patron

         und unsere heiligmäßigen Gründer,

 

 

         Lewis S. Fiorelli, OSFS

         Generaloberer

 

D S B


 



[1] Louis Brisson, Commentaire du Directoire (Eichstätt, Sales-Verlag, 1935), S. 17.

[2] Prosper Dufour, OSFS, Le Très Révérend Père Louis Brisson (Paris: Desclée De Brouwer, 1936), S. 375.

[3] Ebda., S. 283.

[4] Marie-Aimée d’Esmauges, Léonie Aviat: Madre Francesca de Sales (Padua: Edizioni Messaggero, 1991), S. 130, zitierend Vie de Mère Françoise de Sales Aviat, by Mère de Cissey, S. 318.

[5] Prosper Dufour, OSFS, Le Très Révérend Père Louis Brisson (Paris: Desclée De Brouwer, 1936), S. 382.

[6] In einem Brief an P. Brisson vom 21. Januar 1872 zitiert P. Claude Perrot, der Benediktiner, der dem Gründer die erste Ausgabe der Satzungen schreiben half, etwas, das P. Brisson ihm Jahre zuvor geschrieben hatte: “Der heilige Gründer der Heimsuchung hat sein Werk niemals vollendet. Er hat den zweiten Teil davon gerade begonnen[, als er starb].” Nach P. Brisson sind wir der "zweite Teil" (vgl. Archive, Generalat der Oblaten, Rom).